Shared Decision Making (SDM)
Mitentscheidung als Erfolgsfaktor
Zufriedene Patienten, eine hohe Adhärenz und sinkende Versorgungskosten – das sind neben dem medizinischen Therapieerfolg die Ziele in der Prostatakrebsbehandlung. Als ein möglicher Faktor dafür wird bereits seit einigen Jahrzehnten das Konzept des Shared Decision Making (SDM) bzw. der partizipativen Entscheidungsfindung (PEF) gehandelt. Der informierte und kompetente Patient beteiligt sich dabei aktiv an der Entscheidung für oder gegen bestimmte Therapien seiner Erkrankung.
Gemeinsam zu entscheiden lohnt sich
In den letzten Jahren haben zahlreiche Studien den Nutzen der partizipativen Entscheidungsfindung untersucht. Eine aktuelle Sammlung bietet einen Überblick über 209 Publikationen mit insgesamt über 100.000 Teilnehmern. Die Ergebnisse sprechen für sich: Die Verwendung von Entscheidungshilfen hat großes Potenzial, das Wissen von Patienten zu verbessern und damit verbunden die Erwartungen in Bezug auf Nutzen und Schaden verschiedener Behandlungsoptionen zu stärken.
Beteiligte Patienten fühlen sich besser informiert, sind sich im Klaren darüber, was für sie am wichtigsten ist und motivierter, Therapieentscheidungen mitzutragen.[1]
SDM in der Uro-Onkologie
Insbesondere in der Behandlung von Prostatakrebs kann das Prinzip des SDM Vorteile haben. Laut Prof. Dr. Andreas Dinkel, Leiter des Funktionsbereichs Psychosoziale Onkologie am Klinikum rechts der Isar der TU München, vermindert die partizipative Entscheidungsfindung die Gefahr, dass Patienten ihre Entscheidung nach der Therapie bereuen. Eine Studie der TU München mit rund 1.000 Langzeitüberlebenden nach einer Prostatektomie konnte das bestätigen. Vor allem vor dem Hintergrund von erektiler Dysfunktion und Harninkontinenz als häufigen Folgeerscheinungen des Eingriffs nahm im Studienverlauf der Anteil der Patienten, die die Entscheidung zur Operation im Nachhinein bedauerten, deutlich zu. Diejenigen, die laut eigener Angabe gemeinsam mit dem Arzt entschieden hatten, die Prostata entfernen zu lassen, hatten diesbezüglich ein geringeres Risiko.[2]
Bereits verfügbare Entscheidungshilfen
- Die Urologische Stiftung Gesundheit stellt unter https://www.entscheidungshilfe-prostatakrebs.de/ ein internetbasiertes Angebot für Patienten mit Prostatakarzinom bereit. Nach Registrierung können sich die Nutzer auf die gemeinsame Behandlungsentscheidung im nächsten ärztlichen Gespräch vorbereiten.
- In einigen Bundesländern stehen für Ärzte und Patienten bereits vor der Abrechnungsfähigkeit und bundesweiten SDM-Vollimplementierung Materialien als Informations- und Entscheidungshilfen zur Verfügung. Im Bereich des Prostatakarzinoms im Frühstadium bietet SHARE TO CARE Bayern unter https://bayern.share-to-care.de/ eine interaktive Entscheidungshilfe an, die durch eine Zusammenfassung zum Download ergänzt wird.
- In Form eines Downloads bietet auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) unter https://www.gesundheitsinformation.de/entscheidungshilfe-niedrig-risiko-prostatakrebs-welche-moeglichkeiten-habe-ich.html eine Entscheidungshilfe für Patienten mit örtlich begrenztem Prostatakrebs an.
SDM in die klinische Praxis gebracht
Ein erster Schritt zur flächendeckenden Realisierung war das Projekt „Making SDM a reality - Vollimplementierung von Shared Decision Making im Krankenhaus“. Es integrierte SDM erfolgreich mithilfe des eigens entwickelten SHARE TO CARE-Programms im Rahmen eines sogenannten Innovationsfondsprojekts[3] in einer Reihe von Kliniken des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) als erstem Krankenhaus deutschlandweit. Es entstanden Trainingsmodule für Ärzte, eine Kampagne zur Aktivierung von Patienten sowie 80 evidenzbasierte Online-Entscheidungshilfen. Die Umsetzung umfasst die folgenden vier Module:
- Schulungen und Trainings für Ärzte in ihren Kommunikationsfähigkeiten
- Spezifische Qualifikation der beteiligten Pflegekräften
- Nutzung zielgerichteter Entscheidungshilfen für Patienten
- Aktivierung und Beteiligung von Patientinnen im Entscheidungsprozess[4]
Erste Integration im niedergelassenen Bereich
Für einen Teil des niedergelassenen Bereichs wird das Programm von SHARE TO CARE in Bremen integriert. Das Ziel ist es, das SDM-Konzept allen Hausarztpraxen im Bundesland zugänglich zu machen und als Verbesserung der Kommunikation zwischen Arzt und Patient entsprechend zu vergüten.[5] In der ambulanten Medizin nimmt die hausärztliche Versorgung damit eine Vorreiterposition ein. Möglich macht sie die Nutzung von Selektivverträgen, die intensive Zusammenarbeit der Krankenkassen mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), der neuen Hausarztliste und der Vereinigung Hausärztlicher Internisten. Darauf aufbauend wurde Shared Decision Making als zusätzliches Leistungselement anerkannt und kann abgerechnet werden.
Bayern goes SDM
Im Bereich der Prostatakrebstherapie beteiligt sich vor allem Bayern intensiv an der Einführung des Shared Decision Making. Geplant ist die Einführung an insgesamt sechs bayerischen Universitätskliniken und in zuweisenden Schwerpunktpraxen.[6] Damit möchte Bayern als erstes Bundesland das Ziel erreichen, sowohl Patienten als auch Ärzte systematisch bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung in der Krebstherapie zu unterstützen. Federführend ist dabei das Bayerische Zentrum für Krebsforschung, das seit Oktober 2022 gemeinsam mit den bayerischen Universitätskliniken die Weichen für die gemeinsame Entscheidungsfindung in der Onkologie stellt.[7]
Nächster Schritt: Regelversorgung
2023 beschloss der Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses, die Ergebnisse des Kieler Modell-Projektes in die Regelversorgung zu überführen. In diesem Zuge wurden sie an verschiedene Gesundheitsorganisationen weitergeleitet, darunter das Bundesministerium für Gesundheit und die Bundesärztekammer.[8] In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärte Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhardt, dass er die strukturierte Einbeziehung von Patientinnen und Patienten in ärztliche Therapieentscheidungen für wichtig hält, um zu guten Behandlungserfolgen zu kommen. Für die praktische Umsetzung fordert er jedoch sowohl gebührentechnisch als auch in Hinblick auf die ärztliche Aus-, Fort- und Weiterbildung gezielte Anpassungen des Systems, damit das Konzept SDM trotz des in den letzten Jahren erheblich gestiegenen Handlungsdrucks in Kliniken und Arztpraxen umsetzbar ist.[9]
Für welche Patienten eignet sich SDM?
Der Erfolg partizipativer Entscheidungsfindung setzt voraus, dass sowohl Arzt als auch Patient bereit sind, sich auf Augenhöhe miteinander auszutauschen. Nicht für alle Patienten eignet sich dieses Konzept. So zeigte eine systematische Analyse des empirischen Forschungsstands, dass vor allem Patienten jüngeren Alters mit geringerem Schweregrad der Erkrankung, höherem Bildungsgrad und internaler Kontrollüberzeugung gut in Therapieentscheidungen einbezogen werden können.[10]
Grenzen und Herausforderungen des SDM
Bei der Umsetzung im straffen Praxisalltag erfordert SDM einen gewissen Initialaufwand. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass der Einsatz der Materialien während des Patientengesprächs durchschnittlich 1,5 zusätzliche Minuten in Anspruch nimmt. Werden sie zur Vorbereitung der Termine genutzt, entsteht allerdings kein zusätzlicher Zeitaufwand, da der Arzt davon profitiert, mit einem bereits vorinformierten und kompetenten (Prostatakrebs-)Patienten sprechen zu können.[11]
Abrechenbar ist die Anwendung des Shared Decision Making derzeit nur im Rahmen von Modellprojekten in Schleswig-Holstein und Bremen. Am Bremer Programm teilnehmen können alle Hausärzte im Bereich der KV Bremen sowie alle Versicherten, die in die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) eingeschrieben sind. Praxen, die an der HZV teilnehmen und von der entsprechenden Vergütung profitieren, verpflichten sich, die Partizipative Entscheidungsfindung umzusetzen.[12] Hausärztliche Praxen mit Sitz im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Bremen, erhalten für die in die HZV eingeschriebenen Patientinnen und Patienten eine zusätzliche Vergütung, wenn sie das Shared Decision Making anwenden.[13]
Quellen (zuletzt aufgerufen am 30.05.2024):
[1] Stacey D, Lewis KB, Smith M, Carley M, Volk R, Douglas EE, Pacheco-Brousseau L, Finderup J, Gunderson J, Barry MJ, Bennett CL, Bravo P, Steffensen K, Gogovor A, Graham ID, Kelly SE, Légaré F, Sondergaard H, Thomson R, Trenaman L, Trevena L. Decision aids for people facing health treatment or screening decisions. Cochrane Database of Systematic Reviews 2024, Issue 1. Art. No.: CD001431. DOI: 10.1002/14651858.CD001431.pub6. Accessed 31 May 2024.
[2] https://www.med.lmu.de/aktuell/shared-decision-marking/index.html
[5] https://share-to-care.de/projekte
[6] https://share-to-care.de/projekte
[7] https://www.hss.de/news/detail/bayern-goes-sdm-news10200/
[10] https://freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:8824/datastreams/FILE1/content
[11] Stacey D, Lewis KB, Smith M, Carley M, Volk R, Douglas EE, Pacheco-Brousseau L, Finderup J, Gunderson J, Barry MJ, Bennett CL, Bravo P, Steffensen K, Gogovor A, Graham ID, Kelly SE, Légaré F, Sondergaard H, Thomson R, Trenaman L, Trevena L. Decision aids for people facing health treatment or screening decisions. Cochrane Database of Systematic Reviews 2024, Issue 1. Art. No.: CD001431. DOI: 10.1002/14651858.CD001431.pub6. Accessed 31 May 2024.