Exkurs: Fördert COVID-19 Thrombosen und Lungenembolien?
COVID-19 und Blutgerinnsel: Neue Erkenntnisse zu Thrombosen und Lungenembolien
Schwer kranke COVID-19-Patienten entwickeln häufiger Blutgerinnsel, beobachten Mediziner. Dadurch können wichtige Blutgefäße, etwa in der Lunge, verstopfen. Was bedeutet das für Patienten? Wir haben mit dem Thrombose-Experten Dr. med. Frank Misselwitz darüber gesprochen.
Herr Misselwitz, es gibt Hinweise darauf, dass Patienten mit COVID-19 dazu neigen, Blutgerinnsel zu bilden und diese zu Embolien, also dem Verschluss von Blutgefäßen, führen können. Wie beurteilen Sie dieses neue Wissen?
Gerade in den ersten Wochen der akuten Infektionsphase haben mich täglich Ärzte und Professoren, mit denen wir schon seit vielen Jahren eng zusammenarbeiten, angerufen und von Thrombosen beziehungsweise Lungenembolien bei COVID-19-Patienten berichtet. Das hatte zunächst niemand vermutet, weil jeder davon ausgegangen ist, dass das Coronavirus ein Lungenvirus ist, welches die Lunge angreift und schwere Atemwegsinfektionen hervorruft.
Inzwischen verdichten sich die Hinweise jedoch. Eine niederländische Veröffentlichung, bei der Daten von 184 Patienten analysiert wurden, stellte Thrombosen bei einem Drittel der COVID-19-Erkrankten fest. Das ist viel mehr als normalerweise üblich bei Patienten mit einer bakteriellen Lungenentzündung zum Beispiel.
Ist bekannt, dass Viruserkrankungen zu Thrombosen führen können?
Das kann man so verallgemeinernd nicht sagen. Es gibt Viren, die genau das Gegenteil machen, d. h. die Blutungen hervorrufen. Die meisten Viruserkrankungen haben keinen Einfluss auf Thrombosen.
Was genau macht das Coronavirus im Körper?
Ganz genau wissen wir das noch nicht. Aber allgemein können wir inzwischen sagen, dass durch COVID-19 sehr stark die Gefäßinnenwände, die sogenannten Endothelzellen geschädigt werden. Das geht einher mit einer stark entzündlichen Reaktion. Diese führt dazu, dass sich bei den betroffenen Patienten nicht nur in den großen Gefäßen Gerinnsel bilden, sondern teilweise auch in den kleinen Gefäßen. Und manchmal sogar an mehr als einer Stelle. Das kann dann zu Organversagen aufgrund der Verstopfung der Gefäße durch Blutgerinnsel führen.
Gibt es Faktoren, die Thrombosen bei Corona-Patienten begünstigen?
Generell können wir sagen, dass vor allem die schwer erkrankten COVID-19-Patienten betroffen sind – also Patienten in einem Zustand, in dem der Organismus ohnehin schon sehr angeschlagen ist. Darüber hinaus gibt es natürlich eine Reihe allgemein bekannter Risikofaktoren – etwa ein höheres Lebensalter, Übergewicht und Diabetes mellitus. Spezifische Risikofaktoren sind wahrscheinlich vorgeschädigte Blutgefäße, also zum Beispiel Arteriosklerose. Abgesehen davon ist die genaue Entstehung noch weitestgehend unklar. Da ist man erst am Anfang der wissenschaftlichen Untersuchung.
Können blutverdünnende Medikamente diese Risiken mindern?
Es gibt inzwischen eine Beobachtungsstudie mit über 2.700 COVID-19-Patienten in den USA, die darauf hindeutet, dass die therapeutische Gabe von Blutgerinnungshemmern die Krankenhaussterblichkeit bei Corona-Patienten deutlich senkt. Es fehlen allerdings randomisierte, kontrollierte klinische Studien. Diese laufen derzeit noch.
Gibt es offizielle Empfehlungen zur Gabe von Blutgerinnungshemmern bei COVID-19?
Generell wird bei inneren Erkrankungen, die zu einer Bettlägerigkeit führen, eine Thrombose-Prophylaxe empfohlen. Ganz allgemein und unabhängig von COVID-19. Diese Medikamente können natürlich auch bei bettlägerigen Corona-Patienten eingesetzt werden, vorzugsweise mit dem Gerinnungshemmer Heparin.
Es gibt eine allgemeine Empfehlung seitens wissenschaftlicher Fachorganisationen zur Gabe von Blutgerinnungshemmern bei stationär behandelten COVID-19-Patienten, insbesondere, wenn sie intensivmedizinisch behandelt werden. Und natürlich bei Patienten, die bereits eine Thrombose hatten. Was im Moment noch für ganz schwer erkrankte Patienten diskutiert wird, ist eine höher dosierte Thromboseprophylaxe bis hin zu einer therapeutischen Dosierung. Da haben wir aber noch kein abschließend gesichertes Wissen.
Was bedeuten die neuen Erkenntnisse für Patienten, die die Erkrankung zu Hause durchmachen?
Das wissen wir noch nicht. Es gibt noch keine Empfehlung zur prophylaktischen Gabe von Blutgerinnungshemmern bei COVID-19-Patienten, die zu Hause behandelt werden. Dazu müssen wir zunächst laufende Studien abwarten. Es gibt allerdings Hinweise, dass bei Patienten in häuslicher Behandlung das Thromboserisiko deutlich geringer ist – wenn auch nicht gleich Null.
Patienten, die zum Beispiel aufgrund einer Herzerkrankung bereits blutverdünnende Medikamente nehmen, sollten diese weiterhin wie verordnet nehmen. Auf gar keinen Fall sollten sie jetzt eine Selbstmedikation vornehmen.
Es ist auch ganz wichtig, dass sie routinemäßig ihre Arzttermine wahrnehmen. Wir beobachten schwere Fälle lebensbedrohlicher Thrombosen bei Menschen, die nicht an COVID-19 erkrankt sind, die nicht oder zu spät diagnostiziert werden. Viele scheuen in der aktuellen Corona-Pandemie den Arztbesuch aus Angst vor einer Infektion. Das kann gefährliche Folgen haben, wenn zum Beispiel die Behandlung eines Herzinfarktes zeitlich verzögert wird. Im schlimmsten Fall erwächst daraus eine größere Herzschädigung, als wenn man den Infarkt rechtzeitig behandelt hätte.
Was sind Alarmsignale für eine Thrombose?
Es gibt natürlich Symptome – in diesem Fall häufig für eine Tiefe Beinvenen-Thrombose, die durch Bettlägerigkeit und die Grunderkrankung verursacht wird: Das Blut staut sich in den Beinvenen und es kann sich dort ein Gerinnsel bilden. Das Bein bzw. häufig der Unterschenkel ist dann geschwollen, schmerzhaft und gerötet. Manchmal kann man sogar einen Venenstrang ertasten. Das ist dann ein Zeichen, das den Patienten sofort zum Arzt führen sollte.
Dr. med. Frank Misselwitz
Bevor Frank Misselwitz in der Arzneimittel-Forschung bei Bayer tätig wurde, arbeitete er mehr als zehn Jahre als Arzt an Universitätskliniken und betreute Patienten im Rahmen einer Blutgerinnungssprechstunde. Ab 2002 war er bei Bayer als Leiter der klinischen Entwicklung maßgeblich an der Entwicklung des innovativen Blutgerinnungshemmers Rivaroxaban (Markenname Xarelto®) beteiligt. Dafür erhielten er und sein Team 2009 den Deutschen Zukunftspreis des Bundespräsidenten. Ab 2005 leitete er den Therapiebereich Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ist heute als Executive Scientist für Bayer tätig.