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Integrative Onkologie beim Prostatakarzinom
Therapieverfahren der Naturheilkunde erfreuen sich steigender Beliebtheit in Deutschland. Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach ergab, dass 73% der Bundesbürger naturheilkundliche Verfahren anwenden. Ein systematisches Review von 39 Studien (Bishop et al., 2011) konnte zeigen, dass im Schnitt 30% der Patienten mit Prostatakarzinom parallel zur konventionellen Therapie komplementäre Verfahren anwenden.
Integrative Onkologie
Neben der konventionellen Medizin angewendete Verfahren werden als „Komplementäre Therapie“ bezeichnet. Oftmals findet man auch den Begriff der „Alternativmedizin“. In diesem Falle wenden Patienten ein naturheilkundliches Verfahren anstelle der konventionellen Medizin an. Ob ein Verfahren komplementär oder alternativ ist, hängt also von der Art seiner Anwendung ab, nicht vom Verfahren selbst. Würde ein Patient beispielsweise alle konventionellen Verfahren ablehnen und stattdessen nur naturheilkundliche Verfahren anwenden, wäre diese allesamt als Alternative Verfahren zu bezeichnen. Die gleichen Anwendungen wären komplementär, wenn sie mit der konventionellen Therapie kombiniert würden. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch wird diese Trennung so allerdings nicht vollzogen. Dort hat sich der Begriff „Complementary and Alternative Medicine“ (CAM) eingebürgert, was hierzulande manchmal zu Verwirrung führt.
Die „Integrative Medizin“ stellt die Kombination dar aus konventioneller Medizin, Komplementärmedizin und Mind-Body Medizin (MBM). Letztere wird in den USA an jeder medizinischen Fakultät unterrichtet, ist in Deutschland aber leider noch unterrepräsentiert. Die MBM umfasst alle Möglichkeiten, mit denen Patienten Eigenkompetenzen entwickeln, um gesundheitsförderlicher zu leben. Dies beinhaltet Lebensstilmodifikationen in Bezug auf Ernährung, Bewegung, der gesunden Regulation von Anspannung und Entspannung (Stressbewältigung) uvm.
Von den National Institutes of Health der USA wurde MBM folgendermaßen definiert:
„MBM konzentriert sich auf die Wechselwirkung zwischen Gehirn, Geist, Körper und Verhalten, und die machtvollen Möglichkeiten, mit denen emotionale, mentale, soziale, spirituelle und verhaltensbezogene Faktoren die Gesundheit direkt beeinflussen können.“
Eine integrative Onkologie beinhaltet demzufolge die Behandlung von Krebspatienten mit einer Kombination aus konventioneller und komplementärer Therapie und ermächtigt gleichzeitig über spezielle Schulungsprogramme zum Handeln. Dadurch wird den Patienten ein großes Maß an Handlungskompetenz ermöglicht, was die Abhängigkeit von professionellen Einrichtungen und die oftmals gefühlte Hilflosigkeit verringert. Gleichzeitig werden dadurch Resilienz und Lebensqualität gefördert (Paul et al., 2019).
Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, welche Möglichkeiten die Komplementärmedizin bietet, Beschwerden durch eine maligne Erkrankung oder durch Therapienebenwirkungen zu lindern.
Cancer related fatigue
Während einer Tumortherapie klagen ca. 80% der Krebspatienten über ein Fatiguesyndrom, aber auch nach einer kurativen Therapie sind immer noch nahezu 30% davon betroffen. Die Ursachen für die Erschöpfung sind vielschichtig, ein wesentlicher Faktor scheint jedoch sowohl bei der Krebsentstehung als auch bei den beeinträchtigenden Folgen die Entzündung zu sein. Diese stellt sich meist nicht mit den typischen Symptomen von Hitze, Rötung, Schwellung, Schmerz und gestörter Funktion dar. Viel häufiger ist eine sogenannte „silent inflammation“, die zwar von Patient und Arzt nicht wahrgenommen wird, aber trotzdem die entsprechenden Entzündungsmediatoren wie Interleukin 1 / 2 / 6 / 10, TNFa, Prostaglandinen, NOx etc. freisetzt mit entsprechender Veränderung des Gewebes.
Auslöser solcher stummen Entzündungen sind Diabetes, Adipositas, diverse Chemikalien, denen wir mittlerweile alle ausgesetzt sind (Schwermetalle, Lösungsmittel, Pestizide etc.), nicht gänzlich vom Immunsystem beherrschbare Infekte, Toxine aus devitalen Zähnen und auch Störungen der physiologischen Darmflora. Tatsächlich führt auch psycho-emotionaler Stress zur Entzündungsreaktion. In einer Studie konnte vor wenigen Jahren gezeigt werden, dass subjektiv empfundene Stressbelastungen zur Aktivierung von Knochenmark und Immunsystem mit Freisetzung von Entzündungsmediatoren und Auslösung von chronischen Entzündungen im Bereich der Arterien führt (Tawakol et al., 2017). Vielen Krebserkrankungen gehen solche stummen, oftmals über Jahre bestehenden Entzündungen voraus oder stellen sogar den entscheidenden pathogenetischen Faktor zur Entartung dar.
Zur Regulation der Entzündung im Gewebe hat sich in der Praxis die Infusion mit dem Lokalanästhetikum Procain im Wechsel mit hochdosiertem Vitamin C bewährt. In den letzten Jahren konnte der Wirkmechanismus aufgeklärt werden, wie Lokalanästhetika die Immunantwort regulieren und die Signalwege immunkompetenter Zellen beeinflussen. Es handelt sich dabei um einen Gruppeneffekt, der allerdings bei Procain am stärksten ausgeprägt zu sein scheint (Weinschenk, 2020).
Die Infusionen werden ein- bis zweimal wöchentlich in steigender Dosierung von 50mg bis 300mg in einer Vollelektrolytlösung durchgeführt. Die Zieldosis richtet sich nach der individuellen Verträglichkeit des Patienten, oftmals reichen schon 100mg pro Infusion aus. Die Infusionsdauer beträgt bei 50mg eine halbe Stunde, bei 300mg ca. 2 Stunden, da es bei zu schnellem Anfluten zu Kopfdruck und Benommenheit, ähnlich wie einem leichten Rausch, kommen kann. Prinzipiell soll sich die Infusionsdauer an der Verträglichkeit beim Patienten orientieren.
Entweder kann kurz nach der Procaininfusion oder an einem anderen Tag eine Infusion mit Vitamin C verabreicht werden. Hier beträgt die Dosierung mindestens 7,5 g. Mehr als 2 Gramm Vitamin C können oral nicht resorbiert werden, daher sind höhere Plasmaspiegel nur intravenös mit höheren Dosierungen erreichbar. An kleinen Fallzahlen wurden bis zu 120g (!) Vitamin C i. v. bei Patienten mit Pankreaskarzinom bei guter Verträglichkeit appliziert. Vitamin C darf nicht einen Tag vor und bis zu drei Tage nach der Chemotherapie verabreicht werden, da seine Eigenschaft als Radikalfänger möglicherweise die Wirkung der Chemotherapie reduzieren könnte.
In der Praxis hat es sich bewährt, jeweils 10 dieser Infusionen innerhalb von 5 – 10 Wochen zu verabreichen.
Eine zusätzliche Möglichkeit, Entzündungen zu regulieren stellt die Gabe von Natriumselenit (200mg) und Vitamin E (400mg tgl.) dar. Zu beachten ist allerdings, dass Selen nicht gleichzeitig mit Vitamin C oral zugeführt werden sollte, da bei Stoffe im Gastrointestinaltrakt miteinander reagieren und unwirksam werden. Daher empfiehlt sich hier die Einnahme morgens nüchtern mit lauwarmem Wasser. Bei Substitution mit Vitamin E muss auf eine ausreichende Zufuhr von Vitamin C geachtet werden, da Vitamin E bei einem Vitamin C Mangel (der bei Krebspatienten häufiger vorkommt) proinflammatorisch wirkt.
Die Pflanzenheilkunde kennt verschiedene Adaptogene, die zu einer subjektiven Steigerung der Vigilanz und Kraft beitragen können. Dies sind der rote Ginseng, der ursprünglich im asiatischen Raum beheimatet war, mittlerweile aber auch in Deutschland in Bioqualität angebaut wird. Allerdings enthält Ginseng Phytoöstrogene, daher sollte bei einer Antihormonellen Therapie darauf verzichtet werden. Die Tagesdosis beträgt 1000mg.
Eine weitere Pflanze ist Rhodiola (Rosenwurz). Hier stehen von einigen Herstellern Fertigpräparate zur Verfügung. Die Dosierung beträgt 2 x 200mg täglich.
Die anthroposophische Medizin nutzt beispielsweise das Präparat Neurodoron, welches auch eine Wirksamkeit zur Stressreduktion entfaltet und Depressionen lindern soll.
Eine weitere Möglichkeit stellt das Kombinationspräparat Pascolibrin dar (Ignatia, Passiflora, Ambra, Cimicifuga, Cocculus), von dem täglich 4x 10 Tropfen verabreicht werden.
Es ist lohnend, eines dieser oralen Präparate zeitgleich mit den Infusionen zu kombinieren.
Zur Misteltherapie sind mittlerweile über 100 klinische Studien veröffentlicht worden, die eine Steigerung der Lebensqualität bei Krebspatienten nachweisen konnten. Neben einem Kraftzuwachs verzeichnen Patienten unter Misteltherapie eine Verringerung von Ängsten und Depressionen sowie eine Verbesserung des Schlaf-Wach-Rhythmus. In der palliativen Situation werden die Kosten von der GKV übernommen. Seit einigen Jahren sind standardisierte Mistelpräparate auf dem Markt, die eine regelmäßige Applikation ohne Dosisanpassung im Verlauf ermöglichen. Die anthroposophische Vorgehensweise ist deutlich diffiziler und verlangt eine gewisse Einarbeitung in die Materie.
Mehrere Studien konnten zeigen, dass Akupunktur sowohl Fatigue bei Krebspatienten bessern kann, als auch Depression und Angst verringert werden können.
Die MBM kennt ein ganzes Maßnahmenpaket, von denen jede einzelne Intervention durch Studien gut belegt ist. Eine Netzwerkmetaanalyse von 245 RCTs konnte eine Wirksamkeit von Yoga und Entspannungstechniken bei tumorbedingter Fatigue nachweisen (Hilfiker et al., 2018). Des Weiteren kam es auch hier zu einer Reduktion von Angst, Depression und Schlafstörungen sowie einer gesteigerten Vitalität. In Anbetracht des Zusammenhanges von Stress und Entzündung verwundert es nicht, dass eine Reduktion der Entzündungsparameter CRP, IL-1, IL-6, TNF-α, NF-κB durch Yoga, Tai Chi, Qi Gong und Meditation nachgewiesen werden konnte (Bower et al., 2016). Dass sowohl Ausdauer- als auch Kraftsport prinzipiell in das Therapieprogramm von Krebspatienten gehört (nicht nur um Fatigue zu bessern) ist therapeutischer Standard.
Schlafstörungen
Oberstes Prinzip um gut schlafen zu können ist die Schlafhygiene. Meist stören wir eine gesunde Schlafarchitektur durch unser Verhalten. Es ist nötig, seinen Tag so zu strukturieren und sich so zu verhalten, dass ein guter Schlaf überhaupt erst möglich wird.
Dazu gehört:
- Regelmäßigkeit – zur selben Zeit ins Bett und wieder aufstehen
- Ab dem späten Nachmittag koffeinhaltige Getränke (Kaffee, Schwarztee, Cola) vermeiden
- Alkohol weitgehend vermeiden und keinesfalls als Schlafmittel einsetzen. Alkohol wirkt zwar schlafanstoßend, stört aber die Schlafarchitektur und macht den Schlaf unerholsam.
- Nur leichtverdauliche Mahlzeiten am Abend
- Allmähliche Verringerung geistiger und körperlicher Anstrengung vor dem Zubettgehen, stattdessen Spaziergang und Entspannung, um langsam „herunter zu fahren“.
- Nicht mehr Fernsehen vor dem Schlafengehen, auch den Blick in Laptop / Smartphone vermeiden. Diese Geräte geben einen hohen Anteil an blauem Licht ab, was die Ausschüttung von unserem Schlafhormon Melatonin unterdrückt.
In Studien konnten bei Schlafstörungen Wirksamkeitsnachweise erbracht werden für Yoga, Tai Chi, Bewegungstherapie, Kognitive Verhaltenstherapie und Entspannungstraining.
Eine Schlaf fördernde Wirkung entfalten diverse ätherische Öle, allen voran Lavendelöl. Dieses kann in Form von Lavendel-Herz-Auflagen bei Zubettgehen angewendet werden. Dazu werden entweder 1-2 Tropfen Lavendelöl über dem Brustbein verrieben und mit einer feuchten Kompresse abgedeckt. Damit legt sich der Patient dann ins Bett. Eine andere Möglichkeit wäre ein warmes Fußbad, dem Lavendelöl zugemischt wird, entweder pur oder als Bademilch (möglichst ohne künstliche Zusatzstoffe).
Ein Senfmehlfußbad vor der Nachtruhe empfiehlt sich vor allem bei Patienten mit kalten Füßen oder wenn Gedankenandrang und Sorgen am Einschlafen hindern. Das Senfmehl zieht durch seine erhitzende Wirkung die Fülle aus dem Kopf nach unten zu den kalten Füßen und schafft so einen Ausgleich zwischen der oberen Fülle und der unteren Leere. Dazu werden 1-3 Esslöffel schwarzes (!) Senfmehlpulver in eine Fußwanne mit warmem Wasser gegeben (gelbes Senfmehl ist unwirksam). Die Dosierung erfolgt nach Verträglichkeit und Hitzegefühl. Durch die Senfölglykoside werden ebenfalls die Hitzerezeptoren angesprochen, daher muss jeder Patient für sich etwas experimentieren, um das individuell richtige Verhältnis von Wassertemperatur und Menge an Senfmehl herauszufinden. Die Füße bleiben maximal 20 Minuten in der Wanne. Danach werden sie gut abgespült und mit Olivenöl oder einem beruhigenden Hautöl nachbehandelt.
Eine weitere gute und einfachere Möglichkeit ist die Verwendung von Bienenwachsauflagen der Firma Wachswerk. Diese Auflagen bestehen aus einem in Bienenwachs getränkten Tuch, das mit unterschiedlichen ätherischen Ölen (Lavendel, Rose etc.) versetzt ist und das sich der Patient einfach beim Zubettgehen auf die Brust legt.
In Studien konnten Wirksamkeitsnachweise bei Insomnie auch für die Misteltherapie und Akupunktur erbracht werden.
Fazit: Die integrative Onkologie bietet viele zusätzliche Möglichkeiten, um bei krankheits- oder therapieassoziierten Beschwerden wie der tumorbedingten Erschöpfung und Schlafstörungen Verbesserungen herbei zu führen.
Mehr Informationen zum Thema
- S3-Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen. Langversion 1.1 – September 2021. AWMF-Registernummer: 032/055OL
- Informationen zu MBM
- Weitere wissenschaftliche Informationen zu Therapieoptionen aus der Komplementärmedizin
Literatur
Bishop FL, Rea A, Lewith H, Chan YK, Saville J (2011). Complementary medicine use by men with prostate cancer: a systematic review of prevalence studies. Prostate Cancer Prostatic Dis 14: 1–13. doi: 10.1038/pcan.2010.38
Bower JE, Irwin MR. Mind-body therapies and control of inflammatory biology: A descriptive review. Brain Behav Immun. 2016 Jan;51:1-11
Hilfiker R. Exercise and other non-pharmaceutical interventions for cancer-related fatigue in patients during or after cancer treatment: a systematic review incorporating an indirect-comparisons meta-analysis. Br J Sports Med. 2018 May;52(10):651-658.
Paul A, Lange S, Voiß P. Integrative Onkologie an den Kliniken Essen-Mitte. In: Dobos G, Paul A, editor. Mind-Body-Medizin. 2nd ed. München: Elsevier; 2019. p. 225-35.
Tawakol A, Ishai A, Takx RA, Figueroa AL, Ali A, Kaiser Y, Truong QA, Solomon CJ, Calcagno C, Mani V, Tang CY, Mulder WJ, Murrough JW, Hoffmann U, Nahrendorf M, Shin LM, Fayad ZA, Pitman RK. Relation between resting amygdalar activity and cardiovascular events: a longitudinal and cohort study. Lancet. 2017 Feb 25;389(10071):834-845.
Weinschenk S, (Hrsg.). Handbuch Neuraltherapie. 2. A Thieme 2020